Eine Entwicklung ist in Berlin zu beobachten, die sich nicht mehr leugnen lässt: Die Männer zwischen 30 und 50 gleichen sich den Frauen hinsichtlich ausgefallener Wohlfühlernährung immer mehr an. Sie machen sich die kapriziösen Essgewohnheiten des anderen Geschlechts zu eigen. Laktosefreie Milch, Reiswaffeln, glutenfreies Müsli, Jogi-Tee, frischer Ingwer und Sojajoghurt. Das alles findet sich längst auch in männlichen Single-Küchen. Sehr zum Erstaunen der weiblichen Gäste, die zu Besuch kommen und Wohlfühltee oder handaufgeschäumten Sojamilchcappuccino angeboten bekommen. Und vor allem: Die hippen Mitte-Männer stehen in aller Öffentlichkeit zu ihren feminin anmutenden Ernährungsticks. Zunehmend trinken auch sie ihren laktosefreien Latte in den Cafés, um keinen Pupsi-Bauch zu bekommen. Oder sie bestellen grüne Smoothies als Teil ihrer Detox-Kur. Sie finden Gefallen an Veggie-Burgern und exotisch klingenden Gemüsesorten wie Topinambur. Soll man das als Zeichen einer fortschreitenden Verweichlichung der Männer auffassen oder sich über diese Entwicklung freuen? Fakt ist, dass die Domänen Fitness, Wellness, Beauty-Food, Entschleunigen und Balance inzwischen nicht mehr nur den Frauen gehören. Einkaufen im Bio-Supermarkt gehört nun auch für viele Männer genauso zum Alltag wie der Besuch eines Jogakurses oder die Teilnahme an einer Familienaufstellung.
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„Macht euch die Finger so richtig schmutzig!“
Wie es sich anhört, wenn der derzeit coolste Sommelier Berlins über Essen, Wein und Tischmanieren spricht.
Billy Wagner weiß, wo das Gold liegt. Er hat eine Mission. Und die heißt Brandenburg. Was das nächste große Ding sein wird, der nächste große Trend nach Molekular, Burger& Steaks, nach Streetfood, skandinavischer und spanischer Avantgardeküche, vermag er nicht zu sagen. Aber er weiß schon jetzt eines und wie er es vorträgt, das hat schon etwas sehr Prophetenhaftes an sich: „Ich sage euch: Die nächsten 25, ja 30 Jahre werden im Zeichen der Uckermark, des Havellandes, der Müritz und des Spreewalds stehen.“ Billy Wagner kann man mit gutem Grund als den fanatischsten Sommelier Berlins bezeichnen. Radikal, brutal, kompromisslos sind seine Lieblingsadjektive. In der Berliner Weinbar Rutz wurde der angenehm exzentrische Weinkenner mit Hang zu Dandy-Details zum Star. Seit er vor einem Jahr das Rutz verließ, ist sein Bart noch voller geworden. Jetzt sieht er aus, wie die Männer in Berlin Mitte so aussehen. Wie gepflegte Holzfäller, Sektenmitglieder oder Jung-Propheten.
Sommeliers haftete ja lange Zeit das Image pedantischer Schnösel an. Steife, austauschbare Männer, die langweilige Vorträge halten, von denen man beim ersten Schluck Wein wieder alles vergessen hat. Billy Wagner ist ganz klar Entertainer. Er verkörpert den neuen Berlin-Stil der Sommeliers. „Wenn ich nur über Weine rede, hört mir doch keiner zu. Man muss dem ganzen doch ein Gesicht verleihen.“ Wagner setzt sich nicht nur äußerlich von vielen seiner Kollegen ab, er hat auch verstanden, dass man als Sommelier eine Botschaft haben und die Leute mitreißen muss. Eben fanatisch sein und polarisieren. Das fängt schon beim Namen seines neuen Restaurants an: Nobelhart & Schmutzig. Für Billy Wagner schließen sich feiner Geschmack und Derbheit nicht aus. „Es ist doch so, dass ein richtig gutes Essen auch immer schmutzig endet.“ Besser hätte es Luther wohl auch nicht ausdrücken können. Über allem steht das sinnliche Gesamterlebnis. Ein Wein, ein Gericht muss einen Eindruck, eine Erinnerung hinterlassen. „Ein Gang ist toll, wenn wir uns ganz stark auf das Essen konzentrieren, was so viel heißt, wie das Essen anzufassen. Wenn wir das Essen anfassen, dann gehen wir eine ganz andere Verbindung ein, als wenn wir nur mit dem Besteck essen.“ Wie wenn man am Kotti einen Döner isst. Haptischer geht es nicht.
Den Hype der Materie, die Glorifizierung des Haptischen, grob gesagt, das Handgreifliche, das hat Wagner von den Köchen gelernt. „Köche können ja manchmal ziemlich derbe sein. Diese Derbheit ist aber auch wichtig, weil man sehr nah am Essen ist.“ Wenn Wagner über Wein redet, dann kann er auch richtig derbe werden. Nicht ordentlich gekühlten Rotwein bezeichnet er auch schon mal als „pisswarm“. Da hat er beim Italiener im Sommer schlimme Erfahrungen gemacht. Aperol Spritz, das geht für ihn auch gar nicht. Der Mann hat eben seine Prinzipien. Genauso wichtig wie das Anfassen ist für Billy Wagner aber auch die geschmackliche Symbiose von Essen und Wein. Da gibt er in fast allen Fällen immer die gleiche Empfehlung: Wenn man das Essen im Mund hat, sollte man einen ordentlichen Schluck Wein drauf kippen.

„Ein riesiger, heiliger Ort“
Märchen, Sehnsüchte und ein altes Grandhotel: Friedrich Liechtenstein präsentiert abseits von Berlin sein neues Album.
Eben noch tanzte er sich durch Supermarktregale und die Straßen von Berlin Mitte. Der Hype um einen Edeka-Werbespot hatte Friedrich Liechtenstein Mitte Februar zu „Mr. Supergeil“ gemacht. Die Journalisten besuchten ihn in seiner Eremitage in der Linienstraße. Die Leute kamen auf der Straße an und sagten: „Sag mal supergeil“ und wollten ein Selfie mit ihm. Dass Liechtenstein jedoch kein Typ mit einem einzigen Werbespruch ist, beweist er nun mit seinem neuen Album. Es ist nach einem Ort im Nationalpark Hohe Tauern im Salzburger Land benannt: Bad Gastein.
Einst erholten sich hier Kaiser Wilhelm II., Göring, Freud, Liza Minnelli und andere illustre Gäste. Vom damaligen Glamour zeugen heute nur noch die Ruinen der Grandhotels. Junge Hoteliers versuchen dem Ort ein neues, hippes Image zu geben. Bad Gastein ist ein sonderbares Stück vom alten Europa. Aus der Zeit gefallen. Vor genau dieser Kulisse aus Verfall und Revival stellt Liechtenstein seine CD vor. Für seinen Auftritt wählt er einen besonderen Ort: das Foyer des alten Grandhotels. Wie im Film Grand Budapest Hotel fallen die Stockwerke tief in die Schlucht hinab. Ein Relikt des einstigen Weltkurortes.
Der Rest des alten Ortszentrums liegt verlassen da. Vom großen Fenster des Foyers blickt man auf die Hotelruinen und den Wasserfall. Die Folie für Liechtensteins Märchen. „Wenn man sich ansieht, welche Pracht, welche Dimensionen das Grandhotel hat, kann man sich einfach nicht vorstellen, wie es in unserer Zeit gelingen soll, das wieder mit Energie zu füllen. Das ist wahrscheinlich gar nicht möglich.“ Liechtensteins Konzert beweist das Gegenteil. Die Leute reisen für die Vorstellung extra aus Berlin, Hamburg, Wien an. Gespannt lauschen sie seinen Erzählungen über Liebesschmerz, Hirsche und die Sehnsüchte eines alten Mannes.

Das alte Grandhotel in Bad Gastein
Seine derzeitige Bekanntheit will Liechtenstein für den Ort nutzen und Leute nach Bad Gastein locken. Mit schönen Events und Konzerten. „Es ist leider nur ein bisschen weit weg von Berlin.“ Dennoch: Hippe Retro-Hotels wie „Das Regina“ oder „Miramonte“ haben schon jetzt ihre Stammkundschaft aus Berlin und Hamburg, die immer wieder zurückkehrt. Erst vor Kurzem wurde auf der Berliner Dachterrasse der Brillenmarke ic!berlin die neue Ausgabe des offiziellen Bad Gastein-Magazins gelauncht. Und wer schmückt das Cover? Natürlich Liechtenstein. Für Bad Gastein kann sich der Entertainer vieles vorstellen. Künstler sollen den Ort neu beleben, coole Bars, schicke Leute sollen hierher kommen. „Mit dem Leerstand explodieren auch die Möglichkeiten, die Fantasien. Man könnte ein Hotel kaufen, dafür sorgen, dass es cool wird und dann wieder verkaufen.“ Am nötigen Größenwahn mangelt es Liechtenstein jedenfalls nicht.

Der alte Herr stilsicher im Bademantel.